Ewigkeit jetzt - Dialoge über das Glück. Auszug aus dem Buch von Francis Lucille.

Francis Lucille

Vorwort

– Francis Lucille

Wir halten uns selbst normalerweise für eine Kombination von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen. Diese Identifikation mit einem persönlichen Körper-Mentalkomplex ist zutiefst in uns verankert. Die Menschen in unserem Umfeld – unsere Eltern, Lehrer, Freunde und so weiter – hielten sich für persönliche Wesen, und wir übernahmen diese Sichtweise, welche sich genauer betrachtet als die Wurzel all unseres Leidens erweist, ganz selbstverständlich und ohne sie in Frage zu stellen.

Wenn der Körper-Mentalkomplex ein Objekt ist, eine persönliche und begrenzte Sammlung von Denkvorgängen, dann muss es einen Zeugen geben, dem er erscheint. Dieser Zeuge wird gewöhnlich Bewusstsein oder Gewahrsein genannt. Wenn wir erforschen, was wir sind, dann zeigt sich, dass dieses Bewusstsein genau dem entspricht, was wir „Ich“ nennen. Die meisten Menschen setzen das Bewusstsein, welches beobachtet, mit dem Verstand, der beobachtet wird, gleich. In ihrer Sichtweise ist das Bewusstsein ebenso vom Persönlichen begrenzt, wie der Verstand. Sie stellen es sich als eine persönliche Wesenheit vor.

Wenn wir uns bewusst bemühen, den Zeugen zu beobachten, finden wir uns in einer ungewöhnlichen Situation: Aufgrund der subjektiven Natur des Bewusstseins und der Unfähigkeit unserer mentalen Funktionen, etwas Nicht-Objektives zu erkennen, scheinen unsere Versuche zu scheitern; die mentale Aktivität jedoch, der Fluss von Gedanken und Wahrnehmungen scheint für einen Moment anzuhalten. Dieses Anhalten hinterlässt auf der mentalen Ebene keine Erinnerungen, doch die Nicht-Erfahrung erzeugt ein starkes Identitätsgefühl und eine unbeschreibliche Gewissheit, zu sein, die wir mit den Worten „ich“ oder „ich bin“ bezeichnen. Nach einer Weile taucht das Ego mit dem Gedanken „ich bin dieser Körper-Mentalkomplex“ wieder auf und projiziert damit die räumlichen und zeitlichen Begrenzungen der persönlichen Wesenheit auf das grenzenlose „Ich bin“. Die Grenzenlosigkeit des „Ich bin“ kann auf der Ebene des Mentalen nicht anerkannt werden, hinterlässt aber beim Wiederauftreten der objektiven Welt einen „Nachgeschmack“.

Wenn wir Kenntnis von der Präsenz dieses bezeugenden Hintergrundes erlangt und den ersten Blick auf unser wahres Selbst geworfen haben, wird eine mächtige Anziehungskraft geboren, die uns immer wieder zu dieser Nicht-Erfahrung zurückbringt. Jeder weitere Einblick verstärkt den „Duft“ von Freiheit und Glück, welcher dieser neuen Dimension entströmt. Während unsere zeitlose Präsenz immer greifbarer wird, erfährt unser tägliches Leben eine Wende. Menschen, Ablenkungen und Aktivitäten, die eine starke Anziehung auf uns ausgeübt hatten, begegnen wir nun mit Gleichgültigkeit. Unsere bisherigen ideologischen Bindungen werden ohne ersichtlichen Grund schwächer. Die Erforschung unseres wah-ren Wesens nimmt ohne unser Zutun an Intensität zu. Eine höhere Intelligenz kommt zum Tragen, vertieft unser intellektuelles Verständnis von der Wahrheit und bringt Klarheit in unsere ontologischen Fragestellungen. Persönliche Konflikte und Streitigkeiten werden weniger oder lösen sich ganz auf.

Schließlich kommt der Punkt, an dem das Ego von unserer beobachtenden Präsenz, welche sich als die von uns gesuchte ewige Schönheit, absolute Wahrheit und überragende Glückseligkeit offenbart, wieder absorbiert wird – und augenblicklich ruhen wir in der Gewissheit unserer ursprünglichen Unsterblichkeit. Diese plötzliche Enthüllung unserer nicht-dualen Natur kann einem Menschen, der sich noch in der Illusion von Subjekt und Objekt befindet, nicht auch nur annähernd mit Worten beschrieben werden. Er wird die Worte in relativen Kategorien als eine objektive Erfahrung interpretieren. Dies ist die einzige Art von Erfahrung, die er sich vorstellen kann.

Wie kann dieses Gefühl absoluten Glücks jemandem vermittelt werden, der nur relative Erfahrungen kennt? In jeder relativen Erfahrung, ganz gleich wie intensiv sie sein mag, steckt immer die Möglichkeit einer noch intensiveren Erfahrung. Dem ist jedoch nicht so, wenn es um die Glückseligkeit unseres wahren Wesens geht. Wie kann jemand, der nur ein objektbezogenes Glück kennt, die Autonomie und Unbegründetheit dieser Glückseligkeit verstehen? Wie kann die Ort- und Zeitlosigkeit dieser Enthüllung einem Menschen nahegebracht werden, der nur Ereignisse in Raum und Zeit kennt? – wie ihre absolute Gewissheit einem, der in relative Wahrheiten verwickelt ist? – wie ihre göttliche Pracht jemandem, für den Schönheit ein relatives Konzept ist?

Wenn wir sagen, dass unser Universum mit all seiner Fülle und Vielfalt – den Äpfeln im Korb, den geliebten Menschen in unserem Umfeld, dem Beethovenquartett im Radio, den Sternen am Nachthimmel – jeden Moment aus unserer selbst-enthüllenden Präsenz aufsteigt, in ihr ruht und in sie zurückgenommen wird, dann ist das nichts als ein schwacher, misslungener Versuch, die Unmittelbarkeit dieser Enthüllung in Worte zu fassen.

Worte können nur versagen, denn sie vermitteln immer noch die Idee einer transzendenten Präsenz, aus der dieses Universum als ein getrenntes Ding entspringt, während diese Enthüllung in Wahrheit nichts von Getrenntsein weiß. Unser selbstleuchtender Hintergrund, der sich als roter Faden durch alle Dialoge dieses Buches zieht, stellt die einzige Wirklichkeit von allem dar, was existiert.


Kapitel 1

Die Kunst, nichts zu erwarten.

Was können wir von unseren Treffen erwarten?

Erwarten Sie, dass Sie lernen werden, nichts zu erwarten. Nichts zu erwarten ist eine große Kunst. Wenn wir nicht mehr in der Erwartung leben, dann leben wir in einer neuen Dimension. Wir sind frei. Mental frei. Körperlich frei. Das intellektuelle Verständnis, kein psycho-physisches sich entwickelndes Wesen zu sein, ist ein wichtiger erster Schritt; doch dieses Verständnis reicht nicht aus. Die Tatsache, dass wir nicht der Körper sind, muss zu einer tatsächlichen Erfahrung werden, die unsere Muskeln, inneren Organe und sogar die Zellen unseres Körpers durchdringt. Ein intellektuelles Verständnis, welches mit der plötzlichen, flüchtigen Erkenntnis unserer wahren Natur einhergeht, bereitet uns einen Augenblick reinster Freude, doch wenn wir voll und ganz wissen, dass wir nicht der Körper sind, sind wir selbst diese Freude.

Wie kann ich mit meinen Sinnen wahrnehmen, dass ich nicht der Körper bin?

Wir alle erleben Glücksmomente, die von einer Wahrnehmung von Weite und Entspannung begleitet sind. Im Vorfeld dieser Körperwahrnehmung haben wir uns in einem Zustand von Zeitlosigkeit und reiner grundloser Freude befunden, der letztendlich einfach in die körperliche Empfindung münden musste. Die Freude nimmt sich selbst wahr. In jenem Moment waren wir kein begrenzter Körper in der Raumdimension, keine Person. Wir haben uns selbst in der Direktheit des Momentes erfahren. Jeder von uns kennt diese grundlose Glückseligkeit. Wenn wir das, was wir unseren Körper nennen, bis in die Tiefe erforschen, entdecken wir, dass seine Substanz aus genau dieser Freude besteht. Dann haben wir weder das Bedürfnis noch das Interesse, ja nicht einmal mehr die Möglichkeit, das Glück in äußeren Objekten zu finden.

Wie geht diese tiefe Erforschung vonstatten?

Lehnen Sie die Körperempfindungen und Emotionen, die Ihnen erscheinen, nicht ab. Erlauben Sie ihnen, in Ihrem Bewusstsein ohne irgendein Ziel oder eine willentliche Beeinflussung voll zu erblühen. Schrittweise wird sich die potenzielle, in muskulären Anspannungen festgehaltene Energie befreien; die Dynamik der psychosomatischen Struktur erschöpft sich, und es erfolgt eine Rückkehr zur grund-legenden Stabilität. Diese Reinigung der Körperempfindungen ist eine große Kunst. Sie erfordert Geduld, Entschlossenheit und Mut. Auf der Ebene der Sinneswahrnehmungen findet sie durch eine allmähliche Ausdehnung des Körpers in den umgebenden Raum hinein ihren Ausdruck, wobei die somatische Struktur gleichzeitig von jenem Raum durchdrungen wird. Der Raum wird nicht als schlichte Abwesenheit von Dingen erfahren. Wenn die Aufmerksamkeit sich von den Wahrnehmungen löst, die sie in ihrem Bann halten, entdeckt sie sich selbst als den selbstleuchtenden Raum, welcher die wahre Substanz des Körpers ausmacht. In diesem Moment wird die Dualität zwischen Körper und Raum ausgelöscht. Der Körper weitet sich zur Größe des Universums aus und enthält alle greifbaren und nicht greifbaren Dinge in seinem Herzen. Nichts ist außerhalb von ihm. Wir alle besitzen diesen Körper aus Freude, diesen erwachten Körper, diesen Körper allumfassenden Empfangens. Wir alle sind vollständig, es fehlt uns nichts. Erforschen Sie einfach Ihr Königreich – nehmen Sie es wissend in Besitz und leben Sie nicht länger in der erbärmlichen Hütte eines begrenzten Körpers.

In Momenten der Stille habe ich kurze Einblicke in diesen Bereich. Dann gehe ich zur Arbeit und finde mich in einer Umgebung wieder, die weder königlich noch friedlich ist, und meine Gelassenheit verschwindet sofort. Wir kann ich meinen Gleichmut für immer behalten?

Alles was im Gewahrsein erscheint, ist nichts anderes als Gewahrsein: die Mitarbeiter, die Klienten, die Vorgesetzen – absolut alles, auch die Räume, die Möbel, die Gegenstände. Begreifen Sie das zuerst intellektuell, und dann versichern Sie sich, dass es tatsächlich so ist. Der Moment wird kommen, wo dieses Gefühl von Intimität, dieser wohlwollende Raum um Sie herum nicht wieder verschwindet; Sie werden sich überall zu Hause fühlen, selbst im überfüllten Warteraum eines Bahnhofs. Sie verlassen es nur, wenn Sie sich in die Vergangenheit oder die Zukunft begeben. Halten Sie sich nicht länger in der ärmlichen Hütte auf. Diese endlose Weite wartet direkt hier, genau in diesem Moment auf Sie, ihre Gegenwart ist Ihnen schon vertraut. Und wenn Sie erst einmal von der Harmonie gekostet haben, die hinter allen Erscheinungen liegt, dann erlauben Sie den Eindrücken der äußeren Welt und Ihren körperlichen Empfindungen, sich in Ihrem empfangenden Gewahrsein frei zu entfalten, bis zu dem Moment, wo die dahinter liegende Fülle sich spontan offenbart.

Diese Umkehr der Perspektive entspricht dem Moment, wo wir plötzlich auf einem jener Drucke aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, an denen sich Kinder so erfreuen können, in dem Bild eines Baumes das Gesicht eines Engels erkennen. Zuerst sehen wir nur den Baum. Dann erfahren wir in der Bildunterschrift, dass sich hier ein Engel verbirgt, und wir nehmen eine gründliche Untersuchung der Blätter vor, bis wir schließlich den Engel entdecken. Wichtig ist es zu wissen, dass hier ein Engel verborgen ist und wo er sich versteckt hält, und es schon einmal erlebt zu haben, dass der Baum seine Form ändert und zu einem Engelsgesicht wird, wenn das Bild sich neu zusammensetzt und uns sein Geheimnis enthüllt. Wenn der Weg erst einmal freigeschaufelt ist, fällt es uns leichter und immer leichter, die Perspektive zu wechseln, bis wir schließlich Baum und Engel sozusagen gleichzeitig sehen. Auf die gleiche Art lösen sich, nachdem wir unser wahres Wesen erkannt haben, die Restunterschiede zwischen Unwissenheit und Erwachen immer mehr auf und machen Platz für das grundlegende „Sosein“ des Seins.

Übersetzt ins deutsche von Christine Bolam.


Francis Lucille:

Ewigkeit Jetzt

Verlag: J. Kamphausen, Postfach101849, D-33518 Bielefeld

ISBN 3-933496-18-7

Wir danken dem J.Kamphausen Verlag für die freundliche Unterstützung und Genehmigung einer Veröffentlichung.

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