Wenn ein Mensch innehält und sich ehrlich fragt:
„Wer bin ich?“, dann muss er schnell zugeben, dass er es nicht weiß. Was ist unsere wahre Natur?
Ich bin mir nicht sicher, ob er so schnell zugeben sollte, dass er es nicht weiß. Nur eine gründliche Erforschung führt zu der Reife tiefen Erlebens. Wenn Sie versucht haben, zu verstehen, wer Sie sind und die Antwort lautet: „Ich weiß es nicht“, dann würde ich sagen, „schön, schauen Sie weiter.“ Die Erforschung dessen, was wir sind, ist eine ernsthafte Unternehmung und muss statt einer verbalen Wiederholung: „Wer bin ich? Wer bin ich? Wer bin ich?“ auftauchen, wenn eine Aufgabe beendet ist und wir uns in einem Moment der Offenheit befinden.
Diese Frage kann verschiedene Gestalten annehmen, wie zum Beispiel: „Was ist das Leben?“, „Was ist das Glück?“, „Was ist Wahrheit?“ All diese Fragen sind gleichwertig. Sie laufen letztendlich alle auf dieselbe Frage hinaus, die Frage: „Wer bin ich?“ Wenn eine dieser Fragen spontan erscheint, sollten wir antworten, indem wir ihr unser Herz öffnen und ihr all die Aufmerksamkeit und Liebe geben, derer wir fähig sind – und außerdem dadurch, dass wir sie in unser Leben einbeziehen. Dann bleibt die Suche in uns lebendig. Sie eröffnet uns einen Pfad des Verständnisses und klärt den Geist. Wir befinden uns in einem Zustand der Offenheit für das Unbekannte, und in dieser Ruhe verbirgt sich die Gelegenheit, über alles hinaus zu dem Verständnis getragen zu werden, dass wir schon das sind, was wir suchen.
Sie haben darauf hingewiesen, dass es nicht klug ist, mit der Frage „Wer bin ich?“ zu schnell umzugehen. Manche Menschen widmen ihr ganzes Leben dieser Frage oder einer bestimmten Facette von ihr. Ein Philosoph zum Beispiel könnte sein ganzes Leben der Antwort auf die Frage „Was ist das Leben?“ widmen, während der Physiker sich um das Verständnis der Frage „Was ist die Welt?“ bemüht. Ein Psychologe wiederum verbringt sein Leben vielleicht mit „Was ist ein Mensch?“
Bringen uns all diese Herangehensweisen zu unserem wahren Wesen, wenn sie bis zu ihrem natürlichen Ende verfolgt werden?
Diese Forschungsmethoden bringen den Suchenden nirgendwohin. Bestenfalls bringen sie ihn zu der Einsicht, dass er einer Einbahnstraße gefolgt ist. Das allein ist schon ein Erfolg. Die echte Frage „Wer bin ich?“ erfordert große Reife. Ansonsten ist die Suche nicht authentisch, sondern wird von den Begierden und Missverständnissen des Ego korrumpiert. Wenn ich ein professioneller Autor wäre, der über sein wahres Wesen forscht, und wenn meine Forschung durch meinen Wunsch korrumpiert würde, meine Bücher zu verkaufen oder den Nobelpreis zu gewinnen, dann suchte ich nicht nach der Wahrheit, sondern nach Geld und Berühmtheit.
Reife tritt ein, wenn der Suchende in aller Ernsthaftigkeit, Wahrhaftigkeit und Echtheit bei einem absoluten „ich weiß nicht“ ankommt. Hat er diesen Zustand der Reife einmal erreicht, wird er einem Meister begegnen, der ihm auf dem Weg zur höchsten Antwort zur Seite steht. Er wird seinem Meister vielleicht schon früher begegnen, dieses Reifestadium jedoch wird eine Begegnung sozusagen zwingend herbeiführen. Die Gegenwart des Meisers befähigt den Suchenden, aus dem Teufelskreis auszubrechen, in dem er aufgrund der Unfähigkeit der mentalen Ebene, über sich selbst hinauszureichen, gefangen ist. In der lebendigen Anwesenheit des Meisters wird aufgrund einer unfassbaren Erfahrung, aufgrund eines Nicht-Ereignisses die Höhere Intelligenz geboren.
Übersetzt ins deutsche von Christine Bolam.
Francis Lucille: Ewigkeit Jetzt
Verlag: J. Kamphausen, Postfach101849, D-33518 Bielefeld
ISBN 3-933496-18-7
Wir danken dem J.Kamphausen Verlag für die freundliche Unterstützung und Genehmigung einer Veröffentlichung.
Index