Francis antwortet - 9

Francis Lucille

… was echte Aspiranten im Zeitalter der Veden, nach intensivster Anstrengung, während eines ganzen Lebens erfahren haben, kann in unserer Zeit in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum erreicht werden, indem die höhere Vernunft im Menschen direkt angesprochen wird. Das war die Methode, die Shri Atmananda angewandt hat (Einführung in ‘Notes…’ von Nitya Tripta). Vor 50 oder 60 Jahren hingegen vertraten einige andere eine völlig andere Anschauung, was den gegenwärtigen Menschen betraf (unter anderen: René Guénon, A. Coomaraswamy und F. Schuon), sie zogen den Schluß, dass nach dem Mittelalter in Europa eine Abnahme des nachdenklichen Verstandes stattgefunden hat (und wahrscheinlich auch im Osten). Coomaraswamy benutzte den Begriff: dégringolade, um auf dieses Phänomen hinzuweisen. Könnte es eine Koexistenz dieser beiden ungleichen und sich widersprechenden Strömungen in der modernen Welt geben, oder besteht eine? Das ist zwar eine empirische Frage, aber vielleicht lohnt sich die Frage trotzdem. A. M.

Lieber Alberto,

Deine Frage ist intelligent und wunderschön formuliert. Und wie du ja bereits bemerkt hast, ist sie leider auch eine etwas intellektuelle und phenomenale Frage, auf die die echte und fundierte Antwort lautet: “Wer weiss?”

Auf einer alltäglicheren Ebene könnte man vielleicht sagen, dass mit der Abnahme der Lust zum Nachdenken in der modernen Welt, die Werkzeuge, die den Suchenden zugänglich waren, effizienter geworden sind. Zum Beispiel hat das außerordentliche Erwachen und die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode seit dem 18. Jahrhundert, einerseits zur modernen Technologie und der damit verbundenen weltweiten Ausbreitung der materialistischen, am Gegenstand orientierten Kultur geführt. Andererseits hat jedoch genau dieser Paradigmenwechsel uralte Religionen, kulturelle Tabus und Verbote ausgelöscht, die es unmöglich gemacht haben, die einfache, nackte Wahrheit des Advaita aufzuzeigen und mitzuteilen. Erinnere dich nur an die Verfolgungen, die Jesus, Meister Eckhart, Johannes vom Kreuz, Hallaj, Madame Guyon und andere zu erdulden hatten. Wie Atmananda gesagt hat, kommen wir in den Genuß eines spirituellen Fensters, das Möglichkeiten öffnet, die es in der Geschichte noch nie gegeben hat. Wir könnten diese Gleichzeitigkeit der Abnahme der spirituellen Werte und der Verfeinerung der Mittel zum Erwachen, als einen schönen Balance Akt des Absoluten bezeichnen. Die Ansichten von Atmananda and Guénon sind nicht unvereinbar.

Es ist jedoch gut, bei der Verwechslung zwischen Erwachen und Selbst-Erkenntnis, die in einigen Pseudo Advaita Kreisen herrscht, Vorsicht walten zu lassen; oder wie Atmananda es ausdrücken würde, zwischen Nirvikalpa und Sahaja Samadhi. So lange jemand glaubt, dass er ein Tuender ist, gibt es immer noch viel zu tun, nämlich Selbsterforschung und Meditation. Und selbst nach einem ersten Erhaschen der Wahrheit wird in den meisten Fällen ein unerschütterlicher Friede erst nach dem darauf folgenden Prozess des höheren sich damit Auseinandersetzens, des höheren Wahrnehmens und Nachdenkens, vorherrschen.

Die überall vorhandene Verfügbarkeit der Mittel in unserer modernen westlichen Welt, die dem Erwachen dienen, schließt nicht die überall vorhandene Präsenz von verwirklichten Wesen mit ein, und es ist möglich, dass der prozentuale Anteil der Weisen in anderen Zivilisationen höher war.

Dein Francis

Übersetzung von Martina Weber

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